Das Denkmal
Es war einmal ein Dorf . . .
. . . das prächtige Bauerndorf Vockfey mit seinen stattlichen Gehöften, auch in den Ortsteilen Kolepant, Pommau, Neu-Schutschur, Groß Banratz. Bereits im 13. Jahrhundert siedelten deutsche Bauern im damals noch vor Fluten unzureichend gesicherten Elbmarschland. Später bauten sie ihre Häuser in einer Reihe am Deich mit dem Giebel zur Elbe. Der immer höher gebaute Deich war der wichtigste Weg, die Höfe zu erreichen. Der Zweite Weltkrieg hatte kaum Häuser zerstört, obwohl es im April 1945 Beschuss vom Westufer aus gab. Das Dorf Vockfey wurde am 1. Juli desselben Jahres Teil der Sowjetischen Besatzungszone mit Grenzposten an der westlichsten Linie des kommunistischen Machtbereichs.
Im Sommer 1952 lag ein ländlicher Friede über Feldern und Wiesen am deutschen Schicksalsstrom. Bauern, Fischer Handwerker gingen ihrem Tagewerk nach, die Kinder besuchten die Dorfschule. Die Viehzucht war gut in Gang gekommen, in 31 Haus- und Hofstellen wurde gelebt, geliebt, gestorben.
Die Errichtung eines 500 Meter breiten „Schutzstreifens“ vom Deich landeinwärts und einer 5-km-Sperrzone im Mai 1952 traf die Bevölkerung der Elbdörfer schon unvorbereitet. Sie mussten einen 10 Meter breiten Kontrollstreifen täglich harken - das Betreten war bei Androhung von Schusswaffengebrauch verboten. Sondergenehmigungen mussten für den Aufenthalt in Vockfey beantragt werden, kein Mensch durfte nach Sonnenuntergang auf Wegen und Feldern sein. Passierscheine wurden zwar verteilt, Verwandte und Freunde jedoch nur selten oder niemals in die Schutzzone gelassen.
Die Vockfeyer versuchten sich weiterhin in Normalität, bis das ganz große Unheil über sie hereinbrach. Am Ende der ersten Juniwoche 1952 begann der Anfang vom Ende der lebendigen Dorfgemeinschaft. Die Staatsführung hatte die erste von zwei großen Zwangsausiedlungen beschlossen. 1961 folgte die zweite, daneben kam es zu Einzelaktionen. Missliebige Bürger, denen in den heute nachlesbaren Akten „Vergehen“ wie das Hören von westlichen Radiosendern, aber auch offenes Agitieren gegen den DDR-Staat und den „Großen Bruder“ UdSSR, Wahlverweigerung, Nichterfüllung des landwirtschaftlichen Abgabesolls vorgeworfen wurden, mussten binnen 24 – 48 Stunden ihre Heimat verlassen. Die Herren von Politbüro, SED-Kreisleitung und am Ende der Befehlskette ein durch den Krieg selbst einmal heimatlos gewordenen Ortsbürgermeister setzten ohne Erbarmen in einem brutalen politischen Willkürakt die Zwangsaussiedlung durch. 13 Vockfeyer Familien traf es 1952, fast die Hälfte der Bewohner, Kinder, Alte, Männer und Frauen in den besten Jahren ihres Schaffens.
Kein Trost war es, dass im gesamten Amt Neuhaus in 23 Dörfern dieser stabsmäßig geführte Klassenkampf wütete. Ohne eine Erklärung, ohne Angaben von Gründen, ohne Nennung des Fahrziels erging der Befehl, den Hausrat auf einen einzigen Lastwagen zu verladen. Das Vieh hatte da zu bleiben, um später in die allgemeine Bewirtschaftung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) eingegliedert zu werden. Kein Wunder, dass es heute einer 85jährigen einstigen Bäuerin noch heute die Tränen in die Augen treibt, wenn sie berichtet: „Als wir auf dem abfahrbereiten Lastwagen standen, hatten sich unsere Kühe und Pferde auf dem Hof im Kreis aufgestellt und sahen uns nach.“
Zwei Tage zuvor waren die Menschen noch ohne Arg gewesen. Ein junges Paar wollte Hochzeit feiern, aber im letzten Moment kam die Anweisung, nicht mehr als sechs Gäste einzuladen. Das Fest wurde kurzerhand in eine Gaststätte nach Stapel verlegt – deren Wirt 1961 ebenfalls Opfer der Deportation wurde, weil er sich dem Eintritt in die LPG verweigerte. „Als wir aus dem Festsaal kamen, standen schon mitten in der Nacht Lastwagen und Trecker bereit, um nach Vockfey zu fahren“, erinnert sich einer der wenigen, die verschont wurden. In der Morgendämmerung rückte die Staatsmacht in das idyllische Elbdorf ein. Widerstand zu leisten war zwecklos. So auch der Protest eines Bauern 1975, der sich im Sessel sitzend aus seinem Haus tragen ließ. Als Katastrophe, als ungeheure Tragik hat die Aussiedlung ein Lehrer in Erinnerung behalten, der sich mitten im Unterricht von einer Schülerin verabschieden musste.
Die Lastwagen und Traktoren mit dem eilig zusammengesuchten Hab und Gut rumpelten über Neuhaus Richtung Brahlstorf, wo die Züge in das östliche Mecklenburg-Vorpommern rollten. „Da standen Waggons bereit. In der Dämmerung erkannte ich an einer Tür ein Schild mit der Aufschrift ‚Aktion Ungeziefer’, ohne mir einen Reim darauf machen zu können“, erinnert sich eine damals 12jährige
Bauerntochter aus einem prachtvollen Gehöft in Pommau. In kaum begreifbar menschenverachtender Art und Weise hat der DDR-Staat seine im Grenzgebiet nicht erwünschten Bürger in Stasi-Sprache Ungeziefer genannt. Er hat sie Richtung Ost-Mecklenburg, in die Kreise Güstrow, Malchin, Sternberg, Teterow und Waren verschoben, hat ihnen zugemutet, in feuchten, verwahrlosten Zimmern auf verlassenen Höfen und Gütern ein neues Leben anzufangen, oftmals angefeindet von der dort ansässigen Bevölkerung, die die Fremdlinge mit Argwohn betrachteten. Irgendetwas Schlimmes würden sie sich schon erlaubt haben, dort hinten an der Elbe. Mancher der Vockfeyer, besonders, wenn er schon betagt war, ist dort an Kummer und Gram gestorben. Wieder gesehen haben die meisten die alte Heimat oft erst nach der Wende.
Wer erst nach 1989 sich auf den Weg „nach Hause“ machte, den traf der nächste Schock: Vockfey, Pommau, Neu-Schutschur – das waren nur noch wenige Häuser. Kolepant mit elf Gebäuden war völlig von der Landkarte verschwunden. Ein einsames Transformatorenhaus ragt heute noch wie ein Mahnmal in den Himmel. Die zum Teil historischen Hofanlagen mit Fachwerk und Strohdach, die in roten Ziegeln glänzenden, von Wohlstand kündenden Bauernhäuser, die hoch über die Elbe ragten, waren nach den beiden großen Zwangsaussiedlungswellen zunächst stehen geblieben. 1952 gaben sie noch willkommenen Wohnraum für Flüchtlinge her. Mit der Zeit wurde jedoch der politische Wille vorherrschend, das Grenzgebiet, was immer wieder zur Republikflucht durch die Elbe einlud, zu entvölkern.
Das war das Startsignal für den rücksichtslosen Abbruch der Häuser. Mit Sonderprämien wurden Betriebskampfgruppen, aber auch andere Arbeiter gewonnen, den mächtigen Bauten zu Leibe zu rücken. Der Abbruch dauerte tagelang, ganz Vockfey war eine Staubwolke. Was nicht für Neubau und Reparatur anderer Häuser außerhalb des Sperrgebiets gebraucht wurde, wanderte kurzer Hand in den Karpfenteich. Das war ein Brack, ein durch einen Deichbruch im 17. Jahrhundert entstandenes 16 Meter tiefes Wasserloch in der Größe eines kleinen Sees. Wer seinerzeit gedacht hatte, Archäologen würden vielleicht erst in Jahrhunderten diese Spuren menschlicher Besiedlung wieder finden, wird seit 2004 eines Besseren belehrt. Durch den Neubau des Elbdeichs mit einer veränderten, ins Landesinnere verschobenen Trassenführung kam das „Vockfeyer Grab“ wieder zu Tage. Riesige Mengen an Backsteinen, Balken, Torpfosten, Fensterbögen und stählerne Überreste türmten sich in den Baggerschaufeln der Deichbauer. Ein Teil davon wurde zur Erinnerung gerettet und bildet heute das Gedenkhäuschen und die Steinpyramide an dieser Stelle.
Mehrmals haben sich hier auf freiem Felde, die einstigen Dorfbewohner nach der Wende getroffen. Dabei war auch jene Bäuerin, die viele Jahre nicht einmal nach Stapel einreisen durfte, um das Grab ihres kleinen Sohnes zu besuchen. Dabei auch jene, deren Eltern vor Heimweh in der fremde starben. Dabei auch Leidensgenossen aus den 23 Ortschaften des Amtes Neuhaus, die einen Aderlass von 246 Zwangsausgesiedelten zu ertragen hatten. Manche haben damals Briefe an die Mecklenburgische Landesregierung oder an den Staatsrat der DDR geschrieben. Sie wollten einfach nur wissen, warum sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Eine Antwort auf diese Frage blieben die Machthaber ihnen schuldig.
Karin Toben
Journalistin
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